„Die Herausforderung: Mit weniger Ärzten mehr Patienten verlässlich versorgen!“

Seriösen Schätzungen zufolge geben  in den kommenden zehn Jahren rund die Hälfte der niedergelassenen Ärzte ihre Praxen auf. Gleichzeit nimmt die Zahl der Facharztabsolventen für Allgemeinmedizin erheblich ab. Die demografische Entwicklung erhöht zudem den Druck auf die medizinische Versorgung, die daher nicht nur in ländlichen sondern auch in wachstumsstarken Regionen vor immensen Herausforderungen steht. Über die infrastrukturellen Herausforderungen in der Pflege und Gesundheit sprachen wir im Rahmen eines Agenturprojektes zur „Digitalisierung in der Arbeitswelt“ mit GEWOS-Geschäftsführer Jost de Jager.

Herr de Jager, was sind die spezifischen Herausforderungen an die medizinische Infrastruktur in Deutschland?

Berechnungen gehen davon aus, dass der Ärztemangel im schlimmsten Fall bis zum Jahr 2030 bundesweit bis zu ca. 25 Millionen Menschen  betreffen wird. Patienten, deren Ärzte ihre Praxen geschlossen haben, müssen bei den noch vorhandenen Medizinern unterkommen, eine kurzfristige Terminvergabe wird schwieriger, Wartezeiten und Wege werden länger.

Ein Grund ist das in Deutschland traditionsreiche Selbstverständnis niedergelassener, selbstständiger Ärzte: Lange Zeit war der typische Hausarzt männlich, Anfang dreißig, als er mit seiner Facharztausbildung fertig war, und bereit, für den Rest seines Lebens aus  der Stadt, in der er studiert hat, in den ländlichen Raum zu ziehen, um dort eine Familie zu gründen, zu leben und zu arbeiten. Heute ist der Hausarzt in der Regel eine Frau, ist bei ihrer Facharztprüfung Anfang 40 und hat bereits Familie. Aufgrund einer guten finanziellen Versorgung liegen die Interessen dieser Ärztin nicht mehr in der Selbstständigkeit und einem maximalen Verdienst, sondern in einem persönlich befriedigendem Arbeitsplatz mit einer besonderen Sinnhaftigkeit. Die Mehrfachfunktion als berufstätige Ärztin, Mutter und Partnerin verlangt neue, flexiblere Praxisorganisationsmodelle.

Uns gehen die Hausärzte aus – können telemedizinische Leistungen Abhilfe leisten?

Traditionelle Hausarztpraxen sind zumeist selbstständig geführte und mit wenig Personal organisierte Kleinbetriebe, die für heutige Ärzte unattraktiv sind: Als Folge schließen viele Praxen ohne Nachfolger ihre Türen für immer. Darunter leidet jedoch nicht nur die medizinische Versorgung der Bevölkerung, sondern auch das wirtschaftliche und soziale Umfeld.

Denn die Betreuungsintensität wird im Alter erheblich zunehmen. Die größten hausärztlichen Versorgungsengpässe erwarten wir kurz- und mittelfristig nicht, wie zumeist unterstellt wird, in den Landkreisen im Osten der Republik, sondern vielmehr in den strukturschwachen Regionen im Westen. Hier kann die Telemedizin einen Beitrag leisten, aber weniger was die hausärztlichen Versorgungslücken angeht: Zwar hat der Einsatz von Telemedizin viele Vorteile, doch benötigt ein telemedizinisches Angebot weiterhin einen Arzt und das kann und soll auch so bleiben. Einen Mehrwert kann die Telemedizin leisten, um Mobilitätsbarrieren aufzuheben und die Nähe zwischen Patient und Arzt des Vertrauens aufrechterhalten – geeignet insbesondere bei routinemäßigen Untersuchungen. Die Limitationen bei der Telemedizin sehe ich bei der Frage der Akzeptanz auf Patientenseite.

Womit kann diesen Entwicklungen sonst begegnet werden?

Mit innovativen Modellen, in denen weniger Hausärzte in der Lage sind, mehr Patienten zu versorgen, können neue leistungsfähige Versorgungskonzepte entstehen – der Ausbau von weiteren Medizinischen Versorgungszentren wird sicher Teil dieser Lösung sein. Um die regionale ambulante und stationäre medizinische Versorgung zu sichern und zugleich dauerhaft wirtschaftliche Strukturen zu gewährleisten, muss eine enge Kooperation von Krankenhäusern und Kommunen bei der Einrichtung neuer Versorgungszentren das Ziel sein.

Integrierte Lösungen werden nur gelingen, wenn alle anderen an der medizinischen Versorgung Beteiligten – nämlich Pflegedienste, Wohlfahrtsverbände, Apotheken und Heilberufe – von Anfang an in das Konzept mit einbezogen werden. Das Ergebnis darf nicht in einer „Verstaatlichung“ der ärztlichen Versorgung liegen, sondern muss privatwirtschaftliches und gesellschaftliches Engagement ermöglichen. Nach unseren  Beratungserfahrungen für Kommunen ist es zielführend, Analysen durchzuführen und direkt mit interessierten Ärzten ins Gespräch zu kommen, um flexible Weiterentwicklungen gefährdeter Praxisstandorte zu finden. Bereits verwirklichte Pilotprojekte geben diesem Ansatz recht: Mit weniger Ärzten können trotz allem mehr Patienten gut und verlässlich versorgt werden – mit einer hausärztlichen Versorgung, welche die Infrastrukturen erhält und die Region als Wohn- und Wirtschaftsstandort attraktiv macht.

 Jost de Jager ist als Teil der GEWOS-Geschäftsführung ein renommierter Experte für den öffentlichen Sektor, den Wohnungs- und Immobilienmarkt sowie das Gesundheitswesen. Dabei kann de Jager auf Erfahrungen aus zwei Welten zurückgreifen: Aus der Politik als ehemaliger Abgeordneter, Staatssekretär und Minister. Und aus der Wirtschaft als Geschäftsführer, Aufsichtsrat und Unternehmensberater. Seine persönlichen und beruflichen Erfahrungen ermöglichen es ihm, die relevanten gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Aspekte zu einer Gesamtsicht zu verbinden.

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